Was in einer Lehrerin beim Video-Unterricht vorging

Ich gebe es zu: vor meiner ersten Online-Unterrichtsstunde habe ich aufgeräumt und ein wenig umgeräumt. Die Dinge, die sich in meinem Arbeitszimmer sammeln, weil sie dorthin gehören oder weil sie irgendwo anders im Weg sind, wurden in verschiedene Kategorien eingeteilt.

Das, was für Lehrer als Hintergrund in einer Videokonferenz taugt: Bücherregale zum Beispiel, der Standard.

Auch okay: Zimmerpflanzen, Bilder.

Unkonventionell, aber möglich: Musikinstrumente, ein Surfbrett.

Und dann das, was nicht geht: Wäscheständer, private Fotos, zu viel Chaos.

Meine Ratgeber waren befreundete Kinder und Jugendliche, die die Performance ihrer Lehrer in Videokonferenzen schon lange und ausführlich studiert hatten. (Sie legten allerdings Wert darauf, dass ihre Erkenntnisse auf keinen Fall für Schüler im Online-Unterricht gelten. Also bloß nicht deswegen aufräumen!)

Ja, ich weiß, ich hätte den Hintergrund weichzeichnen können. Aber nun stehe ich ohnehin für Fächer, von denen manche sagen, sie seien nebulös und schwammig – Deutsch und Religion. Sollte ich da auch noch wie aus einer weißen Wolke kommend mit meiner Klasse sprechen? Und außerdem: Als ich Schülerin war, fand ich es wirklich spannend zu sehen, wie es bei meinen Lehrern zu Hause aussah. Sollte ich meinen Schülerinnen und Schülern diesen Spaß nehmen?

Also aufräumen.

In den Videokonferenzen blickten mir mal fröhliche, mal interessierte, mal gelangweilte Gesichter entgegen. Danke euch allen, die ihr euch durchgerungen habt, eure Kamera anzumachen. Ihr habt es mir – und auch anderen Kolleginnen und Kollegen – wirklich einfacher gemacht, euch online zu unterrichten.

Aber auch vielen Dank euch, die ihr auf eure Weise Botschaften in euren Profilbildern versteckt habt. Das waren Bilder, die zum Thema passten und zeigten, dass hier jemand mitdenkt.

Oder Naturfotos aller Art, die daran erinnerten, dass man die schönsten Dinge im Leben nicht kaufen kann.

Fotos von Haustieren, die zeigten, wie liebevoll und verantwortungsbewusst ihr Schülerinnen und Schüler sein könnt.

Länger grübeln musste ich bei der Frage, was der Kaiserschmarrn auf der schwarzen Kachel soll. Vielleicht das: „Sie können über alles reden, aber nicht, wenn das Mittagessen auf dem Tisch steht.“

Was mich nachdenklich stimmte, war der Zauberstab von Harry Potter, der Stunde für Stunde direkt auf mich gerichtet war. Ob ich womöglich mit einem Vergessenszauber belegt werden sollte? So oder so, ein eindrücklicher Hinweis, dass man sich nicht nur in Hogwarts überlegen sollte, ob man zu den Guten oder den Bösen gehören will. (Wenn nur immer so leicht ein Unterschied auszumachen wäre…)

Und dann gab es die Schülerinnen und Schüler, die eigentlich nie ihre Kamera einschalteten, egal ob mit oder ohne Profilbild. Einmal dachte ich das, was Lehrer manchmal denken, wenn sie ihre Schüler nicht sehen und diese sich selten zu Wort melden: „Ist da überhaupt jemand?“ Ich rief eine Schülerin auf, fragte etwas zum Unterricht. Es dauerte eine Weile. Ich fragte halb im Scherz, halb im Ernst, ob sie da sei. Endlich war das Mikrofon an.

Und dann sagte die Fünftklässlerin, die in diesem Text Anna heißen soll: „Ich mache meine Kamera nicht so gern an. Ich rede auch grundsätzlich nicht so gerne. Aber ich bin da.“ Sie sagte es mit solch einer klaren, ruhigen Stimme, dass ich wusste: Ja, Anna ist wirklich da. Sie ist nicht nur körperlich vor dem PC anwesend, sie ist auch mit dem Kopf und mit dem Herzen da und nicht nur heute. Sie tut Stunde für Stunde das, was wir Lehrerinnen und Lehrer uns für sie ausgedacht haben. Ihr Arbeitsplatz ist übersichtlich, das Heft ordentlich. Und – viel wichtiger – sie ist inmitten einer Pandemie innerlich so sortiert, dass sie mit wenigen Worten einen Charakterzug skizzieren kann. Anna gab dann auch noch die Antwort auf meine Frage zum Unterricht, aber das war eigentlich gar nicht mehr so wichtig.

Danke an alle Schülerinnen und Schüler, die im Unterricht da waren, wirklich da! Danke euch, auf die wir Lehrerinnen und Lehrer uns verlassen konnten, egal ob mit oder ohne Kamera! Danke für alles Mitmachen, Mitdenken, Nachfragen! Ihr seid spitze und es ist schön euch wiederzusehen. In echt.

M. Feldrapp